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  • Skandalös!

    Welche geheimen, manipulativen Machenschaften und Absichten deine ungelernte Kassiererin im Nebenjob während eures minutenlangen Bezahlprozesses hegt, werden hier von einer Insiderin preisgegeben.

    Um das Weihnachtsgeschäft herum stehe ich 15 Stunden pro Woche in einem von über 100 Läden einer millionenschweren Spielzeugmarke und spreche vehement Kunden an, die offensichtlich mit niemandem sprechen möchten. Oder ich kassiere haufenweise 50-Euro-Scheine für knallbunte Plastikmassen ein. Meine Hände drücken selbstständig die richtigen Knöpfe und mein Mund rattert auf Autopilot die immer gleichen Sätze herunter – mit der perfekt einstudierten schauspielerischen Leistung, so zu tun, als würde ich all das gerade zum ersten Mal und nur zu der Person vor mir sagen.

    In diesem automatisierten Prozess, der grob eine Minute dauert, habe ich über die Wochen eine unterschwellige Manipulation der Kundenwünsche und -entscheidungen eingebaut. Diese hochpsychologische Leistung verdanke ich einer kurzen, absolut flachen Fundraising-Karriere in einem nicht weiter erwähnenswerten Ausland nach meinem Abitur. Bevor ich am vierten Tag aufgrund von der absoluten Abwesenheit von eingetriebenem Geld gefeuert wurde, trichterte man mir bei einem zweistündigen Vortrag ein, wie ich die arme Person, vor deren Haustür ich stehe, ansprechen soll. „Hey, how are ya, good? Perfect! Well, I’m here because…“

    Kolumnistin Marie

    Kolumnistin Marie nur am meckern

    Der gebräunte Surfer-Dude-Experte in dem schäbigen Schulungsraum erklärte gnädig: Das Versuchskaninchen ist dadurch zu einer gigantisch hohen Wahrscheinlichkeit davon überzeugt, dass es ihm gut geht und denkt nicht weiter darüber nach. Außerdem bin ich nun eine vertrauensvolle Freundin, die ihm nur noch mehr Gutes will. Logischer Gedankengang. Würde ich die ehrlich interessierte Frage nach dem Befinden stellen und die Antwortmöglichkeiten offen lassen, finge mein Gegenüber laut umfassender Fundraising-Studien an, darüber nachzudenken wie es ihm wirklich geht. Was ja niemand will. Denn dann wird sich sofort an den verschütteten Kaffee erinnert, die zu zahlende Rechnung, und ich werde von der Türschwelle verscheucht und wahrscheinlich mit Steinen und Tomaten beworfen.

    Genau so stand es sicherlich schon in der Rhetoriklehre antiker Philosophen, Quellen dazu habe ich allerdings verschlampt oder nie erhalten. Also richten wir lieber schnell unsere Aufmerksamkeit zurück auf die grelle Spielzeughöhle voller gestressten Eltern, Tanten und quengelnden Kindern. Denn in all diesen automatisierten Bewegungen ist meinem unbeschäftigten Gehirn aufgefallen, dass ich hier die gleiche Taktik anwende wie der antike, philosophische Surfer-Dude im Fundraising.

    „Hey, das geht ohne Tüte, oder? Hey, ich seh da noch Platz in deiner Tasche. Hey, passt das in deinen Rucksack? Komm, probieren wir fix mal aus, klappt bestimmt.“

    Wird ein Paket vor mich auf den Tresen gewuchtet, fangen in den Schubladen unter ebendiesem Tresen grelle Plastiktüten erwartungsvoll an zu zittern und meine achtstündige Indoktrination von einer Schulung verlangt von mir, diese Monströsitäten anzubieten. Nun schießt allerdings mit jeder verkauften 10 Cent teuren Plastiktüte meine Wut auf die Kunden, die Bequemlichkeit, den Konsum, die Industrien, die verseuchten Meere – kurz gesagt den Plastikwahn exponentiell immer weiter in die Höhe.

    Gibt sich hingegen ein willensschwacher Kunde meiner drückenden Überzeugungslast hin, springe ich in Sekundeneile zu meinem nächsten Psychotrick – einem inbrünstig lobenden: „TOLL!“. Überrumpelt die meisten, konditioniert aber sicherlich ganz fantastisch für die Zukunft.

    Man könnte hier einwerfen, dass bei den Tausenden von Plastikteilen, die in den grellen Paketen gekauft werden, die eine Tüte auch keinen Unterschied mehr macht.

    Man könnte aber halt auch mal nachdenken.

    Und im Gegensatz zum letzten Weihnachtsgeschäft, in dem ich mit leerem Blick Plastik einscannte, reagieren viel mehr Menschen auf meine inbrünstige Beeinflussung mit Zustimmung, oft sogar mit ähnlichem Enthusiasmus ob der nichtgebrauchten Tüte und zücken stolz den mitgebrachten Beutel, klemmen das Paket unter den Arm, oder mühen sich fröhlich ab, es in den Rucksack zu stopfen. Da wird mein Lob direkt noch ein bisschen überschwänglicher.

    Nun kann man sich streiten, ob ich eine brillante Manipulatorin bin, oder ob immer mehr Leute tatsächlich bemerken, was die eine Tüte weniger eben doch für einen Unterschied macht. Immer mehr Leute, die sich aktiv überlegen, was wegfallen soll und muss, wenn man ein Meer mit mehr Wasser als Plastik mag. Um hier nur einen winzigen Rand des Problems zu streifen.

    (PS: Ganz so blöd find ich meinen Job nicht. Kinder mit Spielzeug sind süß.)

     

    Titelgrafik: Marie Nowicki

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