• Menü
  • Kolumne
  • Ich habe Heimweh und weiß nicht wonach

    Kolumnistin Patricia erklärt, warum sich Leipzig wie der erste Sex mit einem neuen Partner anfühlt und warum auch ein Jahr nach ihrem Umzug aus Braunschweig das Herzrasen nicht aufhört.

    Jeden Tag wache ich mit Herzrasen auf. Für manche Menschen ist dieses Gefühl ein leiser Anflug von Nervosität, den sie verspüren, wenn sie etwas Neues oder besonders Schönes erwartet. Andere wiederum verspüren dieses Gefühl eher bei dem Gedanken an die bevorstehende Klausur, dessen Vorbereitung aufgrund von gesnoozter Freizeitgestaltung vernachlässigt wurde. Herzrasen ist mein Alltagsbegleiter geworden, fast schon wie ein imaginärer Freund. Er erinnert mich jeden Tag aufs Neue daran, dass etwas mit meinem Leben in dieser Stadt nicht stimmt. Diese Stadt ist Leipzig.

    Ich habe mir nie Gedanken über das Umziehen gemacht. In meinem Kopf verschwand die Thematik in der Schublade für die Dinge, die das Erwachsenwerden bereithält. Statt Kleidung wechselt man seinen Wohnort, das klang in der Theorie ganz einfach und nicht nach etwas Großem. In der Praxis büßte ich allerdings meinen Seelenfrieden dafür ein. Umziehen, das ist wie der erste Sex mit einem neuen Partner. Beide Seiten wissen noch nicht wie sie miteinander umgehen sollen oder was der jeweils andere braucht, um glücklich zu sein. Der Orgasmus gleicht dann der städtischen Erkenntnis, dass Leipzig kein „better Berlin“ oder „Detroit Mitteldeutschlands“ ist. Zumindest nicht in meinem Fall.

    Kolumnistin Patricia Stövesand

    Kolumnistin Patricia Stövesand

    Ich habe Heimweh, aber ich weiß nicht wonach. Es ist hier doch so super sagen meine Kommilitonen. Es mag ja sein, dass Leipzig eine schöne Stadt ist mit vielen Möglichkeiten zur hippen Freizeitgestaltung oder zum Studieren, aber das sind Braunschweig, Marburg oder Bremen auch. Man vermisst hier keinen Park, den es in Braunschweig gab oder nicht das beste Eis der Stadt. Man vermisst Menschen, die man liebt und mit denen man so eng verwoben ist, dass sich selbst der erste Sex wie etwas wunderbar Vertrautes anfühlt. Bleiben diese Menschen an dem alten Ort zurück, wird man sie in der neuen Stadt immer vermissen und ihr diesen Stempel aufdrücken. Ich fühle mich hier nicht wohl und ich habe Heimweh, weil mir zwischenmenschliche Liebe und tiefe Freundschaft fehlt. Beide sind in Braunschweig zurückgeblieben.

    Ein Umzug formt den Charakter eines Menschen. Und Menschen formen das Leben in einer Stadt. Vielleicht war es die richtige Entscheidung, aber man bezahlt wohl eine lange Zeit mit Heimweh, das schnell in unbegründeten Städtehass ausufern kann. Das ist kein Heimweh nach einem bestimmten Ort, sondern nach Menschen, mit denen ich zufällig an einem zufällig gewählten Ort gelebt habe. Die Erinnerung an diese Menschen wird immer mit dem Ort des Erlebens gekoppelt sein. Leipzig hat gar keine Chance gegen Braunschweig, gegen diese besonderen Menschen, zu gewinnen. Vielleicht muss man sich überlegen, ob man aus Angst oder festhaltender alter Liebe auf den ersten Sex mit einem neuen Partner verzichtet, vielleicht kann man sich aber auch eines Tages überwinden. Ein Jahr später habe ich noch kein Heilmittel gegen mein Heimweh gefunden, aber Leipzig ist mein Zuhause geworden, zumindest auf dem Papier. Wir liegen beide nebeneinander wie zwei ungeschickte Fremde, während mein Herzschlag versucht sich dem Großstadtatem anzupassen.

     

    Artikelfoto: Tim Paul Büttner

    Hochschuljournalismus wie dieser ist teuer. Dementsprechend schwierig ist es, eine unabhängige, ehrenamtlich betriebene Zeitung am Leben zu halten. Wir brauchen also eure Unterstützung: Schon für den Preis eines veganen Gerichts in der Mensa könnt ihr unabhängigen, jungen Journalismus für Studierende, Hochschulangehörige und alle anderen Leipziger*innen auf Steady unterstützen. Wir freuen uns über jeden Euro, der dazu beiträgt, luhze erscheinen zu lassen.

    Verwandte Artikel

    „Klotzen, nicht kleckern!“

    Die Architektur der Städte spiegelt auch immer die Mentalität ihrer Bewohner wider. Warum die Deutschen mehr Mut zu Veränderung beweisen sollten, erfahrt ihr in der heutigen Sonntagskolumne.

    Kolumne | 24. Juni 2018

    Schweinekram

    Kolumnistin Franziska ist sich sicher, dass sie der Welt einen großen Gefallen tut, wenn sie nicht mehr mit ihren Gedanken und Erfahrungen hinter dem Berg hält. Part Eins einer 40-teiligen Serie.

    Kolumne | 17. Juni 2018