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    Kolumnist Tim wandert für sein Leben gern. Je abenteuerlicher, desto besser. Doch das bringt ihn oft an seine Grenzen – körperlich und seelisch. Was ihn antreibt erfahrt ihr in seiner Sonntagskolumne.

    Der legendäre britische Bergsteiger George Mallory soll einmal auf die Frage eines Journalisten, warum er den damals noch unbezwungenen Mount Everest besteigen möchte, geantwortet haben: „Weil der da ist.“

    Ähnlich fiel unsere Antwort aus, als wir am zehnten Tag unserer Wanderung durch das karge isländische Hochland auf einen Jeep voller Schweizer Rentner trafen, die uns fragten, warum um Himmels Willen wir uns auf diese Odyssee begeben haben. „Weil wir es können“, grinsten wir in den klimatisierten und trockenen Wagen zurück, während uns Staub, Wind und Regen schon längst um den Verstand gebracht hatten. Dass noch zehn weitere Marschtage auf uns warteten, bevor wir endlich die Südküste der Insel erreichen würden, blendeten wir recht erfolgreich aus.

    Auch heute fällt mir immer noch keine halbwegs rationale Antwort dafür ein, weshalb man sich mit einem 30 Kilo schweren Rucksack wochenlang durch eine Wüste quälen soll, wenn doch gänzlich andere Fortbewegungsmittel eine viel schnellere und komfortablere Alternative zu den eigenen Füßen bieten.

    Jeglichem Wetter zum Trotz ist die Kamera immer griffbereit.

    Kolumnist Tim in seiner bewährten Wandermontur.

    Und gleichzeitig erscheint es mir wie das Selbstverständlichste der Welt. Denn ebenso wie Mallory treibt einen nicht die rationale Vernunft, sondern die Sehnsucht nach einem bestimmten Gefühl dort hinaus. Kaum etwas reduziert das eigene Ich, dessen Probleme, Sorgen und Nöte mehr, als das Wissen, dass das einzige, was nunmehr in dieser elendigen Einöde zählt, ein trockener, windgeschützter Schlafplatz, etwas Warmes zu essen und eine Wasserquelle ist. Diese Reduzierung der eigenen Bedürfnisse auf das absolut Wesentliche über Tage und Wochen hinweg hat eine unheimlich reinigende Kraft. Die komplexen Verantwortlichkeiten und Verpflichtungen, die sich wie ein Netz um einen gelegt haben, werden nun wie von selbst abgestreift. Der Körper ergibt sich stoisch der Monotonie der stundenlangen Vorwärtsbewegung und macht dabei Platz für den Geist. Fernab der alltäglichen Reizüberflutung beginnt man, die eigene Gedankenwelt zu entschleunigen und über Dinge nachzudenken, für die man in der Hektik der Normalität keine Zeit erübrigen wollte oder konnte. Man entflieht der heimischen Realität, um sie aus einem neuen Blickwinkel  betrachten zu können. Neben der körperlichen Ertüchtigung ist dem Wandern so auch ein stark meditativer Charakter zu eigen.

    Inspiriert hat uns schon früh das puristische Ideal der Wandervogel-Bewegung – jener Studentenvereinigung, die sich Ende des 19. Jahrhunderts im Deutschen Reich von den Fesseln der Industrialisierung der Gesellschaft zu lösen versuchte, in dem sie sich der Natur hinwendete. Mit Rucksack und Klampfe bestückt, wanderten sie durch aller Herren Länder. Dabei gereichten ihnen so wie uns auch stets die alten Romantiker zum Vorbild.

    Doch bei all der schönen Naturverbundenheit haben Abenteuer nichts mit Konsum zu tun, sondern sind ein „Spiel der Leiden“, wie Reinhold Messner 2004 in einem Interview anmerkte. Es stimmt. Letztlich entscheidend sind die Bereitschaft zur Selbstkasteiung und das Verlangen sich beweisen zu wollen. Das kann einem körperlich und seelisch enorm viel abverlangen, gerade wenn man tagelang nur von Sturm, Regen und schmerzenden Gliedern gepeinigt wird. Doch kostet man einmal von der Mühe Lohn, weiß man, dass es das wert ist. Denn von kaum etwas zehre ich heute mehr als von dem Gefühl, welches ich verspürt habe, als wir endlich am Horizont nach all den Tagen und Wochen das Glitzern der isländischen Südküste erblickten. Deshalb treibt es einen jedes Mal wieder in das nächste Abenteuer – immer auf der Suche nach diesem einen Gefühl.

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