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    Tagebuch zur Leipziger Buchmesse am 17. März 2018: Redakteur Conrad stellt fest, dass auf der Buchmesse über die Kunst der wenigen Worte eindeutig zu viele Worte verloren werden.

    Unerwartet beginnt mein Tag auf der Leipziger Buchmesse unter dem Motto „Lyrik“ ausgerechnet beim überhaupt nicht niedergeschriebenen Wort. Aus Neugierde und der Ansicht heraus, dass die literarischte Tätitgkeit auf einer Buchmesse noch immer jene ist, sich selbst mit den Worten auseinander zu setzen, finde ich mich zuerst beim Stand der Dutch Foundation for Literature, die den ganzen Tag ein Programm mit dem Titel „Poetry Puzzling“ anbietet. In einer App kann man sich hier spielerisch — indem man bereits veröffentlichte Gedichte puzzelnd nachbildet — mit Dichtung auseinandersetzen. Je nachdem wie gekonnt und präzise man die Vers- und Reimstrukturen voraussieht, kann man mehr oder weniger Punkte erzielen.

    Bevor ich mich jedoch diesem Spiel widme, welches mein ursprünglicher Anreiz für den  Besuch  dieses Ausstellers war,  werde ich von der netten Standdame zum Anschauen einer 3D-Animation via VR-Brille aufgefordert. Und so erlebe ich voller Staunen — ich, der dem gedruckten Wort sonst so bitter die Treue hält (#Printerwahn) — eine virtuell erzählte Geschichte. Ich setze eine Taucherbrille und Kopfhörer auf und mit einem Mal stecke ich im Kopf eines Mannes, der in einem kleinen, kinderbuchartig illustrierten Haus seiner Tochter gegenüber sitzt. Obwohl die Stimmung friedlich anmutet, ist der Subtext doch ernster als ich zunächst annehme. Der Ich-Erzähler, der mir per Kopfhörer ausschnitthaft meine eigene Geschichte erzählt, springt in Gedanken immer wieder zu Erinnerungen an seine scheinbar verstorbene Tochter, der Schwester des mir gegenübersitzenden Mädchens. Wirklich befremdlich und packend wird das Szenario, als plötzlich Regentropfen beginnen in meine Kaffeetasse zu fallen und ich Zeuge davon werde, wie das Haus komplett überschwemmt wird. Dann verschwindet das Wasser wieder und die Szene entwickelt sich weiter als sei nichts geschehen. Die Grenzen von Wirklichkeit und Vorstellung verschwimmen hier unzertrennlich. Obwohl es nur eine kurze Sequenz war, hat sie mir doch einen beeindruckenden Einblick gegeben, was erzählerisch und somit auch literarisch durch die Vereinigung von Erzählsträngen und 3D-Animation in der Zukunft möglich sein könnte. Was für ein Auftakt in den Messetag!

     

    Eine Sorge als Schnäppchen

    Danach erst finde ich meinen Weg zur ersten Lyrikvorlesung. Im nordischen Forum werden die Gedichte der Norwegerin Ingvild Lothe vorgestellt, die sich trotz des etwas unbeholfenen Bemühungen der Moderatorin nicht in eine Schublade stecken lassen möchte und zu Umschreibungen ihrer Gedichte beharrlich schweigt. Die Lesung eines ihrer Gedichte –  zuerst im norwegischen Original, dann in deutscher Übersetzung – zeigt sich als selbstbewusster, bildlich-anschaulicher Protestruf gegen den Reinheitswahn um den weiblichen Körper. Ich bleibe sitzen und es folgt Ghayath Almadhoun, ein syrisch-stämmiger, heute in Schweden ansässiger Dichter, der ebenfalls mit Dolmetscherin seinen neuen Gedichtband „Ein Raubtier namens Mittelmeer“ vorstellt. Das Gedicht ist von großer Schönheit durchzogen wie von tiefer Traurigkeit erfüllt. Es erzählt von einer Frau deren „Trauer“ zerbricht und die sich daraufhin auf Raten des lyrischen Ichs eine neue, allerdings gebrauchte und günstigere „Trauer“ kaufen will. Quasi als Schnäppchen bekommt sie noch eine Sorge dazu. Wie ich so in der ersten Reihe sitze und die Augen des Dichters nur einen Meter vor mir sehen kann, habe ich beinah den Eindruck ein Aufblitzen dieser Sorge in seinen Augen zu sehen… Aber vermutlich ist das bloß eine alberne Sentimentalität, die bald im Getöse der Messe untergehen wird.

     

    Und niemals sind meine Hände leer

    Ein Wirrwarr von Stimmen und Menschen, Tönen, Klängen und Eindrücken rauscht unablässig um mich. Dagegen muss sich die portugiesische Lyrik-Lesung, die ich als nächstes besuche, behaupten. Und obwohl Lyrik etwas Fragiles, etwas Delikates ist und jedes Wort mit behutsamen Ohren gefangen werden will, schafft es die portugiesische Melancholie doch, entgegen dem Lärm der Messehallen mich mit ihren Worten von Meer, von Sonne und Sehnsucht unweigerlich in ihren Bann zu ziehen.

    Miguel Manso und Marta Chaves lesen, aber was bei mir einen noch tieferen Eindruck hinterlässt, sind die Gedichte der portugiesischen Dichterin Sophia de Mello Breyner, auf die in diesem Jahr das Hauptaugenmerk des portugiesischen Messestandes gelegt wurde. Auf einem großen Banner stehen folgende ihrer Verse:

     

    Apesar das ruínas e da morte,
    Onde sempre acabou cada ilusão,
    A força dos meus sonhos é tão forte,
    Que de tudo renasce a exaltação
    E nunca as minhas mãos ficam vazias.

     

    Trotz der Ruinen und dem Tod,

    wo noch jede Illusion gestorben ist

    ist die Kraft meiner Träume derart stark,

    dass sie jubelnd neu ersteht aus allem

    und niemals sind meine Hände leer.

     

    Besonders gut gefällt mir an dieser Lesung vor allem, dass hier wirklich die Lyrik im Vordergrund steht. An Stelle von langem Gerede um und über die Lyrik werden die Gedichte hier schlichtweg eines nach dem anderen vorgelesen. Ohne großes Trara, ohne viel Brimborium.

     

    Die Kunst der wenigen Worte

    Etwas, das sich über die zwei deutschen Lesungen im Anschluss leider nicht behaupten lässt. Auf der Leseinsel der jungen Verlage stellen Jürgen Nendza und Christian Schloyer ihre beiden neuen Gedichtbände „Picknick“ und „Jump’n’Run“ vor. Dass der lyrische Stil beider Autoren mir persönlich nicht zusagt, kann nicht dadurch wettgemacht werden, dass mindestens ebenso viel Zeit der Lesung durch den Moderator in Anspruch genommen wird, der Dichter, Leben und Werk vorstellt. Ein Schema, welches mich ein wenig enttäuscht, doch welches sich leider fortsetzt bei meiner nächsten Station: dem Messestand des MDR. Hier soll angeblich Kathrin Schmidt ihre „Einladende[n], humorvolle[n] und scharfsinnige[n] Gedichte“ vorlesen. Doch ich werde enttäuscht. Zwar schafft es der Moderator durch seine Fragen und lockere Art eine interessante, spannende Dynamik aufzubauen, die es einfach macht dem Gespräch zu folgen. Doch zu meinem großen Bedauern wird dafür wieder nur um das heiße Gedicht herum geredet und am Ende bekomme ich nur eines von Schmidts sehr wortspielerischen Gedichten zu hören.

    Mit diesem letzten Eindruck schließt sich dann mein Urteil, welches sich schon den ganzen Tag über unterschwellig aufgebaut hat: Über die Kunst der wenigen Worte allzu viele Worte zu verlieren, macht einfach keinen Sinn. Also lieber noch einmal schnell zurück zum „Poetry Puzzling“, um dem Geist der Messe vielleicht am ehesten gerecht zu werden und selbst ein wenig mit Worten zu spielen.

     

    Foto: Conrad Meißner

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